postheadericon Feiern mit Viktoria

Früher holte ich am 1. Mai in aller Frühe immer eine alte russische Flüchtlingsfrau aus dem Flüchtlingsheim ab. Sie wartete schon hinter der Türe beim Portier auf mich. Fröhlich eine rote  Fahne schwenkend zog Viktoria, wie eine alte Sandlerin gekleidet, die Wiener Ringstraße entlang  – den Blaskapellen der Sozialdemokratischen Partei hinterher und verkaufte unsere Flüchtlingszeitung „Die Bunte (Zeitung)“. Sie amüsierte sich prächtig, winkte Bürgermeister Häupl kichernd zu und steckte sich eine rote Nelke an. Nach dem Hendelessen im Prater kehrte sie mit Sonnenbrand und voller roter Luftballons an den Mantel gebunden in das Flüchtlingsheim zurück.

Meeres-Sehnsucht

Viktoria war aus ihrer Wohnung in St. Petersburg vertrieben worden, als ein Spekulant das Mietshaus kaufte, in dem ihre Wohnung lag. Sie lebte über Monate im Stiegenhaus, bis die Schlägertruppen der Spekulanten sie auch aus dieser Zuflucht unter der Treppe verjagten. Alte Traumata tauchten wieder auf, denn in ihrer Jugend hatte ein hoher Polizeibeamter die hübsche Fernseh-Schauspielerin persönlich verfolgt und gefoltert. (Sie zeigte mir Fotos von den schockierenden Narben auf ihrem Rücken.)

In dieser erneuten Extremsituation hörte Viktoria Stimmen und sprach mit sich selber, schaffte es aber trotzdem in Parks interessante Leute mit Verbindungen kennen zu lernen und schlußendlich von Schleppern mit genommen zu werden. Sie wollte nach Griechenland ans Meer ziehen und das unfreundliche Rußland für immer hinter sich lassen.  Sie fühlte sich verfolgt. Als sie in Wien aus dem Lastwagen geschmissen wurde, suchte sie mit dem Athener Stadtplan das Meer hinter dem Naschmarkt. Sie hatte sogar schon Drachmen gewechselt.

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