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Popkulturelle Fluchtlinien zum Thema Pogrom und Shoah.

 

Das Buch wirkt so, als ob ein paar Kapitel fehlen würden. Es ist viel zu dünn. Es fehlen praktisch noch zwei Drittel. Der deutsche Literaturwissenschaftler Jonas Engelmann trug in einem ersten Versuch Variationen von Fluchtlinien für und von jüdischen Menschen zusammen, die mit Hilfe der Popkultur den Mechanismen der Verfolgung entkommen möchten. Engelmann fand unter anderem literarische Strategien, die Shoah als „Teil der Struktur“ von Literatur in die Sprache einzubauen. So wechseln in „W oder die Kindheitserinnerungen“ von Georges Perec permanent die Erzählebenen. Es geht um eine Insel, auf der die gesellschaftliche Ordnung über Sport funktioniert. Mit Hilfe von Verschiebungen und Leerstellen weist das Buch über sich hinaus. Zum Beispiel auf den Roman „Anton Voyls Fortgang“ von Perec, der ohne den Buchstaben E auskommt, einem „Lipogramm-Roman“. Er überlebte in einem Kinderheim versteckt, seine Mutter starb in Auschwitz. Perec schrieb die Abwesenheit, die Vernichtung der europäischen Juden direkt in die Sprache als Abwesenheit ein. Fehlende Eeeeeeeeeeeeeeeeees. Millionen! Die Technik erinnert etwas an Marianne Fritz, die versuchte, dem Thema Krieg über Bild und Sprache gleichzeitig näherzukommen. Der „Lesefluss“ will sich nicht einstellen, „ich bin ganz nah am Tod, wo gischtfingrig nach mir grapscht“. Kein E.

Musiker_innen verwenden ebenfalls seltsame Methoden, Brüche und Fragmente. So wird auf einem Album von Eugene Chadbourne der Hörer mit langen, von der Mutter des Musikers eingesprochenen Passagen konfrontiert. Anna Gisela Chadbourne flüchtete vor den Nazis nach Amerika. Engelmann untersucht aber auch bereits bekannte Modelle wie den Golem genauer, spannender sind aber seine Ausflüge in die „Antifolkszene“ mit „Travel light“ oder zu Franz Kafkas Wunsch „Indianer“ zu werden. Eine neue Form der Gedenkkultur ist das Ziel: „…eine, die nicht in Ritualen erstarrt oder sich an Denkmäler klammert, sondern im Bild des Schwebens das Prozesshafte des Erinnerns, seine Überführung in die Gegenwart in den Mittelpunkt stellt…., das die Vergangenheit in sich einschließt, ohne sie abzuschließen.“

 

Jonas Engelmann: Wurzellose Kosmopoliten. Von Luftmenschen, Golems und jüdischer Popkultur, testcard Zwergobst, Ventil Verlag 2016

 

Ersterscheinung im Augustin, 8. 6. – 21. 6. 2016

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