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Susanne Peter über Drogenabhängigkeit: „Das fängt ja alles schon viel früher an“

Wie hängen diverse Süchte mit schrecklichen Ereignissen in Kindheit und Jugend zusammen? Eine Sozialarbeiterin des Obdachlosenbetreuungszentrums Gruft und eine Pschologin der Drogentherapiestation im Otto-Wagner-Spital reden mit dem Augustin über die Rolle von Traumata, über umgeleitete Wut und über die Qualität der Therapieangebote.

„Bei uns geht es nicht so sehr darum, in der Vergangenheit zu wühlen oder aufzulösen“, erklärt Susanne Peter von der Gruft, dem Caritas Betreuungszentrum für Obdachlose. „Sondern: Wie kann ich den heutigen Tag überleben und gut leben.“ Auf der Terrasse eines Kaffeehauses in der Nähe der Gruft ist es laut. Eine ältere Frau, altmodisch, aber elegant gekleidet, wird von der Kellnerin abgedrängt. Sie protestiert lautstark. „Wohnungslosigkeit ist ein Trauma, das muss man erst einmal verkraften, auf der Straße zu sein“, sagt Susanne Peter, die schon mit 16 Jahren für die Kirche „Tee und Schmalzbrote“ an Obdachlose verteilte, „du hast kein Bett, keine Privatsphäre, keine Intimsphäre – wenn ich ein Bier trinke, muss man das in der Öffentlichkeit sein. Man lebt vor aller Augen, ohne Rückzugsmöglichkeit. Alkohohl ist dann eine Art von Lösung, aber keine gute oder langanhaltende.“

160 Menschen kommen zum Mittagessen in die Gruft, 120 sind es am Abend, die unterschiedlichsten Menschen sitzen brav und dichtgedrängt an den Tischen unter den Bögen unter der Barnabiten-Kirche, eine Welt in der Welt. Susanne Peter arbeitete auch im JUCA, einem Caritas Haus für junge Erwachsene im Projekt „Zwickmühlen Gespräche – Therapie vor Ort“. „In einer Zwickmühle zu stecken, kann man leicht zugeben. Viele hatten in ihrer Kindheit traumatisierende Erlebnisse, man muss sehr viel ausräumen, was sie schon einmal erlebt haben. Gewalt oder Sucht in der Familie – wenn das Kind aber jemand anderen hat, irgendeine Tante, einen Onkel, muss es nicht zwangsweise später auf der Straße landen.“ Viele Obdachlose würden ihre traumatischen Erlebnisse nicht mit ihrer heutigen Situation in Verbindung setzen und seien erstaunt, wenn wer sagt: „Dass es dir nicht gut geht, mit deiner Geschichte wundert mich nicht!“ Hauen wird als Erfolgserlebnis gelernt: Zuerst schlagen, bevor man geschlagen wird. In den Therapien muss diese Strategie dann mühsam wieder auseinander geklaubt werden.

„Wie kann ich Liebe weitergeben, wenn ich das nicht gelernt habe? Ich entschuldige die Gewalt nicht, aber eine ganze Generation war vom Krieg traumatisiert. Man muss das System anschauen, die Generationen und nicht die einzelne Person. Herr Soundso ist zu dem geworden, weil es ein System – eben seine Familie – gibt und sein System wurde so, weil es das System, die Gesellschaft gibt. Die Eltern haben oft nicht anders handeln können, die Klienten verstehen dann, dass ist nicht meine Schuld, die Gewalt hätte nicht mich persönlich treffen sollen, sondern der Hass gehört dorthin…, was aber nicht entschuldet.“

Milieu der Außenseiter als Ersatzheimat

„Da war niemand!“, bestätigt auch Andrea Schwienbacher von der Drogentherapiestation Pavillon 1 auf der Baumgartner Höhe, dem Otto-Wagner-Spital. „Häufig kommen unsere Patienten und Patientinnen aus zerrissenen Familien. Es  finden sich bei nahezu neunzig Prozent traumatische Erlebnisse in der Kindheit oder Jugend. Vielfach ist es aber eine Frage der Ressourcen, ob man traumatische Erlebnisse integrieren kann – ob es eine haltgebende Person gab. Ressourcen können aber auch Ideen und Ideologien sein, ein Land, ein Dorf, ein Dorfverband.“ Die Psychologin und Psychotherapeutin arbeitet auch schon 20 Jahre in ihrem Beruf. Sie kennt sich aus. „Die, die süchtig werden, versuchen für sich einen Platz zu finden, mit Hilfe der Suchtmittel, den Leuten aus der Szene, sie versuchen eine innere Balance zu erreichen. Wenn man sich als Außenseiter fühlt, weil man ein Trauma mit sich herum trägt, sucht man sich Außenseiter, wo man sich beheimatet fühlen kann.“

Heroin sei allerdings kein Entlastungsmittel gegen Stress und Überforderung, da es schnell süchtig macht und illegal ist, Alkohohl hingegen möge als legales und nicht so teures Suchtmittel länger als solches angesehen werden. Manche mit zu viel unverarbeiteten, oft unbewußten Traumata, entwickeln eine so genannte „Persönlichkeitsstörung“. Es entsteht eine Art Teufels-Kreislauf: „Die Suchtmittel fördern auf Dauer eine Verfestigung dieser Störungen, weil sie als Coping Versuch auf längere Sicht misslingen. Sie führen zu problematischen Lebensverhältnissen, die wiederum zu weiteren Schwierigkeiten führen…“

In all den 20 Jahren waren ihre Patienten im stationären Kontext großteils männlich und um die dreißig Jahre alt. Woran liegt das? „Frauen haben andere Ressourcen oder Kinder zu versorgen. Männliche Patienten sagen, jetzt werde ich dreißig und habe nichts vorzuweisen. Oder: Jetzt wird es schön langsam Zeit. Die ganz Jungen meinen, dass sie die Sucht alleine in den Griff bekommen könnten und  noch viel Zeit und Möglichkeiten hätten. Die Eigenmotivation ist bei uns ausschlaggebend. Sicher gibt es Druck von der Familie oder vom Richter, aber die Therapie greift nicht, wenn sie nicht aufhören wollen. Die kommen mehr oder weniger freiwillig, aus eigener Kraft.“

Kleine Dosen

„Es braucht viel mehr Therapie vor Ort“, meint Susanne Peter, die immer wieder  Fortbildungen neben der Arbeit macht, zur Zeit im Bereich „Traumatologie“. Sie würde nur „Begleitung“ machen, keine „Änderungen wie in der Therapie“. „Keiner ist freiwillig auf der Straße und mir macht es Spaß, Wege zu finden, dass sie von der Straße wegkommen.“ Über den Zeitraum von drei Jahren redete Peter mit einem Obdachlosen durch die verschlossene WC-Türe. 25 Jahre auf der Straße bilden ein dementsprechendes Mißtrauen aus. „Man braucht einen langen Atem, Veränderung braucht Zeit. Die Rettung schaut auch, wer Hilfe braucht und nicht wer Schuld hat. Das fängt ja alles schon viel früher an. Viele Traumata bearbeitet man, aber ein Teil kapselt sich ab und irgendwann kommt es heraus und geht nicht mehr. Für die Leute, die sie brauchen, ist Therapie kaum leistbar, in Deutschland zB schon.“ Peter selbst will „wirklich Interesse zeigen. So wie er ist, ist er mir wichtig, er als Mensch, in seiner Menschenwürde ist er mir wichtig.“ Wenn ein Trauma gemeinsam verarbeitet wird, kommt das nächste daher, Körper und Psyche schützen sich vor Überflutung, sonst könnte man das alles nicht ertragen. „In kleinen Dosen muss man das verarbeiten“, sagt Susanne Peter. „Eine Dosis nach der anderen.“

Die Tragik der Wut

Ein Obdachloser hatte seit 1993 kein Einkommen mehr, der Pensionsantrag mit 65 Jahren wurde wegen fehlender Versicherungszeiten abgelehnt. Nach dem gemeinsam eingereichten Antrag auf Mindestsicherung erhielt er erstmals wieder finanzielle Unterstützung. „Jetzt wohnt er…“ Ein anderer, der vom Metallverkaufen und Flaschensammeln lebte, unterschrieb erst, „als wir ihm die Geburtsurkunde brachten“, den Mindestsicherungs-Antrag. „Es bewegte sich was. Er machte uns dann Druck in Richtung wohnen, hielt es plötzlich nicht mehr aus. Kennen’s irgendwen, der nicht wohnen will, fragte er mich. Er konnte lange nichts annehmen. Statt zu denken, der will nicht, sollte man denken, zurzeit kann er nicht. Aber man schafft den Schritt raus aus der Obdachlosigkeit auch ohne Therapie, unsere Sozialarbeit ist z. B. eine sehr aufsuchende, nachgehende. Man muss am Menschen dran sein.“

In ihrem ruhigen, von tollen Zeichnungen der Patienten angefüllten Zimmer im Pavillon für Drogenkranke erläutert Andrea Schwienbacher Aggression, Wut und oft Selbstdestruktion ihrer Patienten: „Die Wut wird umgeleitet, irgendwo muss sie sich ja entladen, das ist die Tragik. Ihnen fehlen Grundwerte und Selbstwertgefühl. Natürlich sind sie sehr wütend, weil sie viel mitgemacht haben; sie stehen am Rande der Gesellschaft, können nicht so sein, wie sie sein wollen, wissen manchmal gar nicht, was sie wollen, außer ein besseres Leben zu haben… Wir schauen in der Therapie, wo die Wut her kommt.“ Integration in Gruppen für Gleichaltrige hält sie für die Entwicklung von Jugendlichen für ganz wesentlich. „Einer schaut auf den anderen, es gibt keine Hierarchien, unter Gleichwertigen gibt es wenig Angst.“ Und Herausforderungen, womit nicht Leistung gemeint ist: „Nichts ist schlimmer als eine Gesellschaft ohne Herausforderungen, ohne Abenteuer, in der sich im Leben ihrer Mitglieder nichts abspielt. In den westlichen Gesellschaften ist Sucht ein großes Problem. Wir sind nun einmal soziale Wesen und jeder will etwas beitragen, gebraucht werden und gestalten dürfen. Unsere Patienten brauchen Zeit ihre Gefühle in Worte zu fassen und einen Ausdruck zu finden, um damit ins Gestalten kommen zu können.“ Für die Drogen-Therapeutin ist es wichtig, diese Entwicklungsschritte zu sehen, die nicht verloren gehen, auch wenn sie vielleicht wieder eine Zeitlang brach liegen.

 


Erschienen im Augustin Nummer 302, 27. 7. 2011 – 23. 8. 2011

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