postheadericon Ich arbeite bis zu meinem Ende, kein Problem!

Liebt „seine“ Zeitung, liebt Österreich, erkennt sich dennoch als „eine Null“: Kolporteur Mohamed Gomah

Dass an dieser Stelle Zeitungsverkäufer porträtiert werden, wird niemanden unter unseren LeserInnen überraschen. Dennoch stellt der folgende Beitrag eine Premiere dar. Unsere Aufmerksamkeit gilt diesmal einem, der die „Boulevardzeitung“ der anderen Kategorie, mit mächtigerem Hintergrund, unter die Leute bringt. Der Kolporteur Mohamed Gomah lebt seit 30 Jahren von und für die Kronenzeitung (bzw. Mediaprint). Ein Interview von Kerstin Kellermann.

Herr Gomah, Sie arbeiten nun schon über dreißig Jahre als Zeitungskolporteur für die Kronenzeitung. Welchen Beruf übten Sie vor dieser Zeit aus? Welche Ausbildung haben Sie?

Ich spielte Basketball in der ägyptischen Meisterschaft. Im Jahre 1970 nahm meine Mannschaft an der „African Championship“ für Basketball teil, wir wurden zwölftbeste von ganz Afrika. Aber neunmal von insgesamt 19-mal waren wir afrikanischer Meister. Wir besuchten Meisterschaften in Europa, in Karlovac, Skopje und Ljubljana und die Olympiade in Belgrad. 1972 spielten wir bei der Olympiade in München, mussten aber nach den Terror-Anschlägen sofort zurückfahren. Präsident Sadat schickte uns ein Flugzeug. Ich besuchte die Sportuniversität und war insgesamt neun Jahre lang beim Militär. Ich spielte zweimal bei den Militär-Basketballmeisterschaften mit, verdiente aber nicht besonders. Die jungen Basketballer heutzutage verdienen gut. Am 28. Dezember 1974 fand für mich das letzte Spiel in der African Championship statt, denn am nächsten Tag, am 29. Dezember, bin ich mit dem Schiff von Alexandria nach Venedig abgereist. Mit einem Freund gemeinsam erhielten wir ein Touristenvisum für Österreich, das damals einen guten Ruf hatte. Zwei Tage später feierte ich auf dem Schiff das schönste Sylvester meines Lebens.

Wann begannen Sie als Kolporteur für die Kronenzeitung zu arbeiten? Wie war damals die Lage?

Heute gibt es über 1000 Kolporteure, damals waren es nur 152. Wir fragten bald nach unserer Ankunft im Januar 1975 bei der Kronenzeitung um Arbeit, und seitdem bin ich dabei. Eine österreichische Frau, Waltraud Hassan, mit dem Spitznamen „Marika“, die Ehefrau eines Ägypters, unterstützte mich wirklich. Ohne sie wäre ich nicht da. Sie gab bei der Polizei eine Garantie für mich ab, eine Bürgschaft. Diese Frau werde ich in meinem ganzen Leben nicht vergessen. Seitdem die U-Bahn-Linie Nummer eins 1988 eröffnet wurde, arbeite ich da. Früher war das eine schwere Arbeit, weil wir Akkonto bezahlen mussten. Je höher die Auflage, je höher das Akkonto. Wenn ich alle Zeitungen verkaufe, erhöht sich die Auflage, das ist besser für mich, denn dann verdiene ich mehr. Früher waren wir alleine in der U-Bahn, doch jetzt gibt es diese Gratiszeitung. Außerdem werden auch mehr Abos verkauft, die billiger sind als der Straßenverkauf. 80 Prozent der Auflage aber müssen über den Straßenverkauf gehen. Ich bin über sechzig Jahre alt, seit dreißig Jahren arbeite ich für die Krone. Früher war besser, dass man ein relativ hohes Fixum für das Tragen der Jacke und auch für die Verteilung erhielt.

Waren die Leute freundlich? Wie wurden Sie von der Bevölkerung aufgenommen?

Die Österreicher sind liebe Leute, ich habe sehr guten Kontakt. Ich kenne Leute aus dem Parlament, der frühere Polizeipräsident kaufte bei mir. Ich habe meinen Standplatz in der U-Bahn-Station Kennedybrücke in Hietzing. Bundespräsident Fischer habe ich beim ägyptischen Club kennen gelernt. Einmal fragte ich ein paar Kunden wegen der Übersetzung eines Briefes an den Bürgermeister. Ich bin ein Mieter ohne Vertrag, ich brauche Hilfe, wollte ich dem Bürgermeister schreiben. Diese Kundin mit dem Namen Annemarie Rosa half mir eine Gemeindewohnung zu finden. Innerhalb von drei Wochen bekam ich meine Gemeindebauwohnung, und bis heute lebe ich in ihr. Später erhielt ich die Staatsbürgerschaft und wollte meine Frau holen. Es gab gerade einige Gesetzesänderungen bezüglich Aufenthaltsrecht. Ein Kunde, der Bankdirektor war, sprach mit der österreichischen Botschaft in Kairo, und dann ging es mit dem Visum ganz leicht. Und meine Frau kam zu mir. Jetzt kommen überhaupt keine jungen Ägypter mehr, denn es ist zu schwierig, ein Visum zu bekommen. Nur noch alte Leute gelangen im Rahmen der Familienzusammenführung nach Österreich.

Wie denken Sie über die Demokratie in Österreich?

Hier kann man normal mit einem Polizisten reden. Ich habe meine Ruhe. Ich kenne genau die Gesetze und die Verkehrsregeln, wenn ich mit dem Bus oder mit dem Auto fahre. Es gibt keinen Streit, jeder hat seine Religionsfreiheit. Mich besuchen viele Juden. Jeder für jeden und Gott für alle. Hier leben alle zusammen. Österreich ist wie eine Wohnung, in der alle leben können. Unter einer demokratischen Regierung hat jeder seine Ecke, in der er friedlich leben kann. Die Finger sind nicht alle gleich, die Leute sind nicht alle gleich. Ich bin ein Muselman, und die Leute wissen genau, dass ein Terrorist etwas anderes ist. Niemand hat den Krieg im Irak gewollt, es gibt so viele Tote – ein Krieg ist für alle schlecht. Seit 25 Jahren, seit dem Oktober 1979, arbeite ich auch als Läufer für die Lokale im zehnten Bezirk, jeden Abend zwei Stunden zu Fuß. Das ist mein Sport. Alle kaufen von mir, ich trinke Kaffee auch bei vielen jüdischen Leuten. Hier gibt es keinen Unterschied zwischen diesen und jenen von verschiedenen Religionen – Gott sei Dank!

 Niemand hat mir gesagt, dass ich Sozialversicherung einzahlen soll

Wenn Sie am Abend auch noch arbeiten, wann schlafen Sie überhaupt, wenn ich fragen darf?

Ich schlafe von Mitternacht bis drei Uhr früh. Um halb vier beginne ich mit der Auslieferung, um vier kommt das Auto. Ich liefere an 24 Kolporteure aus, mit Lieferschein ausfüllen und allem. Wenn einer Probleme hat, kommt er zu mir, dann spreche ich mit dem Chef. Wir haben auch viele arme Leute aus Bangladesh oder Pakistan, mit denen rede ich Englisch. Wenn ein Platz frei ist, entscheidet der Chef, wer aufgenommen wird.

Wie sieht das aus: Wann werden Sie in Pension gehen?

Ich bin selbstständig, ich habe keine Pension eingezahlt. Niemand hat mir gesagt, dass ich Sozialversicherung einzahlen soll, auf diese Weise habe ich nur die Krankenversicherung eingezahlt. Ich bin selbst schuld. Ich arbeite bis zu meinem Ende, kein Problem! Im Winter bin ich einen Monat in Alexandria, wegen meinen Bandscheiben ist der Winter in Wien nichts für mich. Alexandria hat ein gutes Klima, 18 Grad Celsius im Januar. Hinter Alexandria liegt die Wüste Sahara, da gehen alle Autoabgase hin. Es ist nicht so voller Abgase wie Kairo mit seinen 14 Millionen Einwohnern und dem vielen Verkehr. Meine Frau Wafaa lebt nun auch schon längere Zeit in Ägypten, sie kommt nur im Sommer. Früher waren keine ägyptischen Frauen hier, sie war damals die dritte Ägypterin in Wien und ziemlich alleine. Mein Sohn hat „Englische Wirtschaft“ fertig studiert und arbeitet jetzt in einer Firma. Meine Tochter studiert in Alexandria Anthropologie. Ich bedanke mich bei der Zeitung, dass ich mein Leben aufbauen konnte. Ich habe durch die Zeitung meine Familie ernährt, eine Wohnung gekriegt, meine Kinder haben studiert. Ich liebe meine Zeitung, ich liebe Österreich, aber ich bin hier eine Null. Die Zeitung hat mir viel gegeben, und es ist nicht leicht, nach so langer Zeit aufzuhören. Ich bedanke mich bei der Zeitung für mein Leben. Ich gehe in Ruhe, ich bin zufrieden. Ich grüße jede Person, die bei mir eine Zeitung gekauft hat.

„… geringer, als es die optische Präsenz vermuten lässt“

Wann und wie startete die Kronenzeitung mit dem Straßenverkauf? Augenzeugen oder tätige Personen zu finden ist gar nicht leicht. Drei Ansprechpersonen auf höherer Ebene sind zu jung, um sich zu erinnern. Der vierte Herr hat zu Hause im Regal ein Buch über die Kolporteure liegen – vermutlich aus den 80er Jahren. Er verspricht nachzuschauen. Schließlich schreibt der Vertriebschef der Mediaprint, Prokurist Walter Aue, der Augustin-Journalistin eine E-Mail: „Ich bin 1969 in die Krone eingetreten, da gab es die Kolportage schon, in Wien wurde damals jede dritte verkaufte Krone über diesen Verkaufsweg abgesetzt. Durch veränderte Bedingungen ist heute der Verkaufsanteil wesentlich geringer, als es die optische Präsenz vermuten lässt, nicht zuletzt durch den Ausbau der Hauszustellung. Die seit der Wiedergründung der Krone 1959 tätigen Vertriebs- und Kolportageleiter sind leider bereits verstorben.“

Mit so manchen MigrantInnen, die den Augustin verkaufen, haben sie zumindest eines gemeinsam: Ihre im Herkunftsland genossene Ausbildung würde eine „qualifiziertere“ Tätigkeit in Österreich möglich machen.

Kommentieren ist momentan nicht möglich.

Archiv