postheadericon Schwäche zeigen hat damals den Tod bedeutet

Über 30.000 Überlebende des Holocaust hat der Nationalfonds im Laufe der Jahre unterstützt. Im September wird die neugestaltete österreichische Länderausstellung im ehemaligen KZ Auschwitz eröffnet. Nationalfonds-Generalsekretärin Hannah Lessing über ihre anders ausgelebte Schauspiel-Karriere, ihren apodiktischen Vater und ihre in Auschwitz ermordete Großmutter, die Konzertpianistin war.

Hannah Lessing (r) mit Esther Bejarano

Wie lief es während Corona mit Ihrer Arbeit mit den Holocaust-Überlebenden?

Leider sind sehr viele gestorben. Einige durch Covid. Vielen hat aber auch die Einsamkeit zu schaffen gemacht. Manche fragten sich, was kann ich noch machen, wenn die Schulen, in die als Zeitzeugin gehe, versperrt sind? Es war schwierig, Kontakt zu halten. Ich hatte mehrere große Video-Konferenzen für Senior Jewish Retirement Homes. Eine Überlebende in Albany ist jetzt 101 Jahre alt geworden! Mein Großcousin in Israel ist als letzter Lessing aus dieser Generation gestorben.

Ihre Eltern waren extrem kreativ, die Mutter Traudl Lessing in Texten, der Vater Erich Lessing in Bildern. Sie haben aber Wirtschaft studiert. Konnten Sie Ihre Kreativität mit Zahlen ausleben?

Nein! Gar nicht! Wirtschaft habe ich studiert, weil ich meinen Traumberuf als Schauspielerin nicht realisieren konnte. Als Jugendliche spielte ich in dem Film „Holocaust“ mit Meryl Streep mit. Das war eine Miniserie, wir drehten in Mauthausen. Ich hatte meinen Vater so lange getriezt, bis er sagte, eine Freundin castet gerade für einen riesigen Hollywood Film, bei dem kannst du mitspielen. Auch bei Tarabas, einer Josef Roth-Verfilmung in der Regie von Mischa Kehlmann, war ich dabei. Die Aufnahmeprüfung im Reinhardt-Seminar verpasste ich, weil ich in Israel im Kibbuz verlängert hatte. Es hat sich durch meinen Beruf dann sowieso ergeben, dass ich viel auf der Bühne stehe. Meine erste Rede hielt ich 1995 in Israel, kurz nach dem Attentat auf Yitzhak Rabin. Seit damals habe ich weltweit unzählige Reden gehalten.

Ihre Oma, die in Auschwitz ermordet wurde, wird als Konzertpianistin bestimmt auch viel auf der Bühne gestanden sein?

Nach ihrer Verehelichung nicht mehr, weil man ihr gesagt hat, eine Lessing produziert sich nicht. Ich kannte ihre Herkunftsfamilie Schwarz nicht – sie sind fast alle im Holocaust ermordet worden. Für ein Benefizkonzert am Dentisten-Ball 1929 im Konzerthaus durfte sie noch einmal auftreten. Mein Großvater war Zahnarzt, er ist mit 50 Jahren früh gestorben.

Kinder haben ein sehr starkes Gespür dafür, was in einer Familie schiefläuft. Sie haben mit acht Jahren von der Ermordung ihrer Oma in Auschwitz erfahren. Einem Kleinkind fällt doch auf, dass es nur eine Oma hat, wenn die anderen Kinder zwei haben?

Es gab immer nur die eine Oma. Es waren schöne Sommer in Altaussee mit ihr. Bei uns war sowieso nie viel Familie – keine Tanten, keine Onkel. Wir Kinder hatten aber Ersatztanten. Meine „Ersatztante“ war Liese Scheiderbauer, eine Theresienstadt-Überlebende. Sie war für mich schon immer meine große Liebe. Papa war oft auf Reisen, Mutti hat viel gearbeitet, meistens in der Nacht für Amerika. Aber es ist interessant, dass ich meinen Vater nie gefragt habe: Du, wo ist deine Mutter?

Ihr Vater hat ja genauso seine Großmutter verloren – sie starb in Theresienstadt.

Er hat nie darüber geredet. Auch über seinen Vater nicht.

Kinder spüren meist stark, wenn jemand eine Trauer hat, auch wenn sie es nicht benennen können. Wie empfanden Sie das bei Ihrem Vater?

Papa hat gesprüht vor Energie. Zugleich war er apodiktisch und dominant. Er wusste genau, was er will. Er war ein unglaublich charismatischer Mann und ich liebte ihn bedingungslos über alles – ich habe sowieso nie irgendetwas hinterfragt. Als ich dann zum Judentum übergetreten bin, spürte ich einen Unterschied zu meinen nicht-religiösen Eltern in Bezug auf die Religion. Ich hätte vorher nicht beschreiben können, was mir fehlt, aber ich habe immer gemerkt, dass mir etwas fehlt. Heute weiß ich, was mir damals gefehlt hat, ohne es sagen zu können.

Sie haben beim Nationalfonds mit extrem viel Verantwortung unglaubliche Summen verwaltet. War das Wirtschaftsstudium nicht doch zu etwas gut?

Über den Nationalfonds, Entschädigungsfonds und Friedhofsfonds wurden bisher fast 600 Millionen Euro ausbezahlt. Wir haben natürlich eine Finanzabteilung, aber ich kann eine Bilanz kontrollieren. Ich bin ehrenamtliche Aufsichtsrat-Vorsitzende der Wiener Kunsthalle, dort sehe ich mir ebenfalls die Zahlen an. Meine Kreativität lebe ich in anderen Bereichen aus: beim Gesangsunterricht, bei Chansons, israelischem oder französischem Gesang. Meine Eltern waren sehr kreativ im Sinne des Schreibens und Fotografierens, aber ich kann als emphatischer Mensch auf Menschen zugehen und ich wollte von Anfang die Welt retten. Ich wollte alle Menschen retten… (lacht).

Obwohl der Vater doch gar nicht gerettet werden wollte?

Nein, der Papa wollte nicht gerettet werden, aber viele andere brauchten Hilfe. Im Nationalfonds besuchten uns tausende Überlebende, sie sind persönlich gekommen und haben ihre Geschichte erzählt. Ich bin im Durchschnitt 13- oder 14-mal pro Jahr im Flieger gesessen. Ich war in vielen Exilländern wie in Argentinien, Australien, Israel, den USA… In einem winzigen Ort in Texas habe ich in einem Altersheim eine Österreicherin besucht – also ich habe die Menschen auch aktiv gesucht, bin stundenlang mit ihnen gesessen und hörte einfach zu.

Machten Sie auch Interviews?

Nein, eben nicht, weil ich das Gefühl hatte, dass wir es ihnen schuldig sind, einfach nur die Hand auszustrecken. Wir wollten nicht mit einem Aufnahmegerät das Gefühl vermitteln: Okay, ihr bekommt Geld, aber eure Geschichten lasst ihr da. Die Shoah Foundation von Steven Spielberg hat zwar Tolles geleistet, aber er interviewte teilweise Leute, die sechzig Jahre hindurch geschwiegen hatten, fünf Stunden lang und anschließend blieben sie mit ihren Erinnerungen allein. Wir wussten es ja selber nicht. Ein Jahr, nachdem wir angefangen haben, rief ich David Vyssoki an, den damaligen Leiter des Wiener Psychosozialen Zentrums ESRA, der leider kürzlich verstorben ist. Ich fragte ihn: David, was machen wir falsch, die Leute rufen uns an und sagen, meine Mutter kann nicht mehr schlafen vor Alpträumen. Was haben Sie mit ihr gemacht? Er meinte, seit 1945 haben sie geschwiegen, sie wollten nicht ihre Familie belasten mit der Geschichte, aber auch zu keinem Therapeuten gehen – weil zu einem Therapeuten gehen, heißt Schwäche zeigen und Schwäche zeigen hat damals den Tod bedeutet. Ihr habt alte Wunden aufgerissen. Redet mit den Leuten, die Kinder können eventuell die Eltern überzeugen, in Therapie zu gehen. ESRA hat unglaublich tolle Arbeit geleistet, nicht nur bei den jüdischen Überlebenden, sondern auch bei anderen Verfolgten wie den Kindern vom Spiegelgrund. Da ist so viel passiert. Das war für mich die schönste Aufgabe, dass ich diesen Menschen ein bisschen den Glauben an die nächste Generation geben konnte.

Ersterscheinung im Augustin Nummer 533, 28. 7. – 24. 8. 2021

https://www.nationalfonds.org

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