postheadericon Wer aufmuckt, hat verloren

Die Anarchie scheint dahin, ebenso wie das Lustige, Rebellische, Revolutionäre – der Flohmarkt ist kein Volksfest mehr. Auf dem Wiener Naschmarkt wird mit Polizei und Marktamtangestellten schon um zwei Uhr ein Frühschluss durchgesetzt – mit gravierenden Folgen. Ein Besuch.

Die Leichtigkeit ist dahin. Kaum haben die Standler aufgebaut, könnten sie schon wieder abbauen. Jedes Glas einzeln in Zeitungspapier einwickeln. „Es gibt ein Gesetz“, sagt ein rotgewandeter Markt-Beamter. „Eine Verordnung“, verbessert ein anderer. „Das hat der Gemeinderat so beschlossen.“ Das Marktamt beruft sich auf die Politiker, Besucher berufen sich auf die Menschlichkeit und das Gemeinschaftsgefühl. Die gefühlte Gesellschaft, das Gemeinsame. Doch das Lustige, Rebellische, Revolutionäre, das scheint dahin.

„Ich habe die Baupläne gesehen“, behauptet ein flotter Kaffeehauspächter, der aufhören wird. „Die wollen auf längere Sicht den Restaurantnaschmarkt ausbauen!“ Auf Nachfrage meint er, dass das Parkplatz-Areal, auf dem der Flohmarkt stattfindet, mehreren Bezirken gehört, und er die Bebauungspläne auf einer Internet-Seite des Bezirks Margareten gefunden habe. Und weg ist er. Zwei kleine Braune und einen frischen Aschenbecher bringen.

Die Stadt Wien würde mit Restaurantpacht sicher

um einiges mehr verdienen als mit den Ministandlern. Jeder packt ein, statt mit den Käufern zu verhandeln. Viele ärgern sich, statt sich zu amüsieren. „Wir können uns das alles anhören“, sagt der Mann im Marktamt, der seit 30 Jahren dabei ist. Beschwerdebuch gibt es keines. Die Standler vor der Türe haben es inzwischen eilig. Keine Scherze mehr.

 

Verschwundene „Elendshäufchen“

Die älteren Menschen mit ihren „Elendshäufchen“ sind verschwunden, die sonst ab 14 Uhr auf leere, schon bezahlte Standplätze einwandern. Stattdessen Polizei. Müllbericherstattung. Der neue Chef des Marktamtes kommt nämlich von der Müllabfuhr. Auf Beschwerden reagiert er eiskalt und innerlich kochend: „Ich habe mir ihre Beschwerden angehört. Verzeihen Sie, dass ich jetzt gehe.“ Dreht sich um und verschwindet. Durch Frühschluß werde der Müll um ein Drittel reduziert, stand in der Zeitung. Inzwischen gibt es fast keinen Müll mehr beim Frühschluss des Flohmarktes. Und keine Menschen.

Der rothaarige Standler ist zum ersten Mal seit Jahren nicht illuminiert. Keine Zeit. Beschwerde eines weiteren Kaffeehausbesitzers: Früher saßen die Leute bis in die Nacht unter seiner Markise und erfreuten sich des Lebens, jetzt ist Frühschluss. Eine Gemeinschaft bricht zusammen. Der Uhrenklub trifft sich aber nach wie vor. Die Gemeinde Wien macht sich beliebt. Spaßverderber. Barrikadenbau. Keiner darf mehr raus- und reinfahren. Die Straßen werden gesperrt. Der Flohmarkt bedeutet kein Volksfest mehr.

„Ich zah eh schon an“, sagt eine Standlerin und packt fleißig ein. Es ist traurig. Einer hoppelt aufgeregt mit Gibsfuß im Kreis. „C’est fini?“, wundert sich ein Franzose. „Manche bringen den Müll, herumliegende Sachen, von den anderen Bezirken, um den auf dem Flohmarkt wiederzuverwerten und zu verkaufen. Auf die Art räumen sie die Bezirke zusammen, und die Müllabfuhr muss das hier nur noch zentral einsammeln.“ Der Standler lacht. „Warum ist das notwendig, dass die Leute so arm sind, dass sie Müll suchen? Ist in Österreich die Ökonomie kaputt oder was?“ Seine Frau verkauft mit bitterem Lächeln bei Wind und Wetter Kleider. Dünn und bleich schaut sie aus. Der Mann hat ein Hörgerät, amüsiert sich aber jeden Samstag bestens. Sechzig Euro zahlt er für den Stand, meint er, da sei auch die Reinigung drin. Er ist für einen Schulss um 16.30 Uhr. Wenn es dann dunkel wird, im Winter.

„Ab jetzt bitte den Stand zu verlassen“, sagt ein Standler. „Es ist ein Zufall, dass ich heute keinen hinauswerfen muss.“ „Die Leute sind entsetzt“, meint ein anderer, „die müssen zu diesem Zeitpunkt mit dem Auto reinfahren, dabei ist noch alles voller Menschen. Gefährlich.“ „Die Tageshändler auf der anderen Seite dürfen überhaupt nicht mehr zufahren, die müssen alles zu Fuß hinaustragen. Drei Stunden Verkaufszeit pro Tag wurden uns gestohlen. Vor Kurzem wurde noch die Standgebühr erhöht, und jetzt das. Von oben herunter wird uns alles kaputt gemacht.“ „Es gab zwei Umfragen, in denen der Frühschluss abgelehnt wurde. Und jetzt doch!“ Die Männer drängen sich, um ihre Meinung kundzutun. „Wer aufmuckt, kriegt urschnell keinen Platz mehr.“

Autos fahren im Schritttempo durch die Menschenmenge. „Der Gewinn ist dahin, ein Drittel des Umsatzes weniger“, moniert einer. „Ja, jetzt will es keiner gewesen sein, der Fühschluss   forderte“, meint Alexander Hengel am Telefon, der Pressesprecher der Wiener Magistratsabeilung 59. Angeblich hätten sich einige Standler die Frühschlusszeit gewünscht, und es sei von Juli bis September verhandelt worden.

 

Einzelne fangen zu streiten an

Die Wirtschaftskammer, in der der Altwarenhandel organisiert ist, hat der neuen Marktordnung zugestimmt. Zwölf Jahre lang galt die alte Marktverordnung – bis wieder eine neue kommt, das kann dauern. Das Parkplatzareal gehört der MA 28 und von diesbezüglichen Bebauungsplänen habe Hengl noch nichts gehört. Ein Drittel der verbauten Fläche des Gemüse- und Obst-Naschmarktes sei für Restaurants in Verwendung und der SPÖ-Bezirksvorsteher des sechsten Bezirks wolle nicht auf die möglichen vierzig Prozent aufstocken.

Einzelne fangen zu streiten an, Polizisten treten auf. Zwei Rollstühle mitten im Getümmel. Ein Auto beginnt einzufahren. Gehupe. Weiteres Gestreite. Ein Glas geht zu Bruch. Schlechte Laune überall. Autostau von Lieferwagen. „Die werden Krieg gegen uns führen“, ruft mir einer im Vorbeieilen zu. „Wir sind die Sklaven!“ Die kleinen Händler stehen in einer Reihe mit geschlossenen Rollwagerln. Bereit zum Verschwinden. Sie schauen grimmig. Es ist zum Heulen. Panikgefühle machen sich breit. Einer verkauft noch schnell einen Stuhl. „Bitte schön“, sagt er. „Setzen Sie sich.“ „Kleine“ Leute stehen tapfer mit ihren „Elendshäufchen“ da. Sie proben den Aufstand. Autobesitzer haben andere Sorgen: „Was soll ich jetzt tun, bitte, es kommt kein Auto rein und keines raus.“ Der Marktamtmann ist gelbgrün im Gesicht und wird umringt. „Wenn wir nicht um drei Uhr weg sind, gibt es eine Anzeige“, weiß eine Standlerin. „100 Euro.“

Alles rennt, rettet, flüchtet. Ein Mann fährt mit dem Auto über eine Bücherkiste. Menschen bücken sich, um die gequetschten Bücher zu retten. Man kann doch nicht Bücher wegwerfen lassen! Wenigstens sind diesmal keine Bagger in Betrieb wie noch vor drei Wochen. Das sah schlimm aus. Damals lernte ich einen Kunstgeschichtler kennen, der eifrig fotografiert und das Naschmarktgeschehen seit Jahren dokumentiert (siehe Fotos). Fröhlich, eifrig, hoffend.

Der ganze Flohmarkt ist noch immer voller Menschen. „Was die Standler sagen, ist irrelevant“, sagt der Marktamtmann grantig. „Alles gratis“, sagt eine exjugoslawische Frau mit einem Seufzer. „Ich schenke die Leute.“ Ein Braunbär aus Keramik steht am Boden, ein Gebirgsbild lehnt einsam in der Gegend herum. Viele bleiben einfach stehen inmitten ihren Sachen. Es bleibt ein starkes Verlustgefühl.

 

Ersterscheinung im Spectrum/Die Presse vom Samstag, den 1. Dezember 2018

Presse Online unter „Wiener Naschmarkt: Das Ende des Flohmarktes?“

 

Fotos von Walter Niewehr

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